Kulturkampf im Verfassungsgericht

Zu einer Zeit, in der die Politisierung der Justiz Deutschland erreicht hat, könnte es sinnvoll sein, einen Blick auf die Vereinigten Staaten zu werfen, um zu sehen, wohin dies führen kann. Natürlich unterscheiden sich die Justizsysteme auf beiden Seiten des Atlantiks erheblich, aber die jüngsten Entwicklungen zeigen gewisse Ähnlichkeiten aufgrund der Art und Weise, wie soziale Medien den politischen Diskurs prägen. Die algorithmische Logik der Medienplattformen ermöglicht es gut organisierten rechten Minderheiten, Themen wie Abtreibung zu nutzen, um die Auswahl von Richtern und Gerichtsurteile zu beeinflussen. Ohne sein Wahlversprechen an evangelikale und konservative Wähler, den Obersten Gerichtshof mit „Pro-Life“-Richtern zu besetzen, wäre Donald Trump 2016 nicht Präsident geworden; und ohne die konservativen Richter und Richterinnen, die er seitdem ernannt hat, wäre das aktuelle Abdriften des Landes in eine Autokratie nicht möglich.

Wenn wir auf die Geschichte des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten (SCOTUS) zurückblicken, gab es immer politische Auseinandersetzungen über seine Auslegung der Verfassung. Als das Verfassungsgericht mit seinen Urteilen in den 30er Jahren ein Teil der der New Deal-Gesetzgebung von Franklin D. Roosevelt blockierte, drohte der Präsident damit, die Zahl der Richter zu erhöhen, um seine politische Agenda durchzusetzen. Später ignorierte das Gericht jahrelang die offensichtliche Verletzung der Verfassung durch die fortgesetzte Rassentrennung in den Südstaaten, bevor es zwischen Ende der 50er und Ende der 60er Jahre dazu gedrängt wurde, politische Reformen durch die Bürgerrechtsgesetze zu unterstützen.

Dabei haben sich zwei traditionelle Muster herausgebildet. Erstens führt die Ernennung der Richter auf Lebenszeit zu einer zeitlichen Verzögerung, so dass die liberale oder konservative Rechtsprechung noch lange nach einem möglichen Politikwechsel fortbesteht. Und zweitens reagiert das Gericht oft verspätet und zögerlich auf Veränderungen, die von der Zivilgesellschaft, d.h. von einfachen Leuten, die vor den unteren Gerichten für ihre Rechte kämpfen, und von liberalen Anwälten, die staatliche Behörden wegen der Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte von Bürgern verklagen, angestoßen werden.

Nachdem in der Nachkriegszeit die Demokraten konservative und die Republikaner liberale Richter ernannt hatten und der Oberste Richter Earl Warren, selbst ein Republikaner, eine Reihe historisch fortschrittlicher Entscheidungen getroffen hatte, begann in den 1980er Jahren unter Ronald Reagan die Polarisierung der Justiz. Mit dieser neuen Riege republikanischer Richter wurde der „Originalismus“ - die richterliche Theorie, dass der Verfassungstext so gelesen werden muss, wie die weißen Männer von 1788 ihn verstanden und ratifiziert haben - vom Gericht als Instrument zur Durchsetzung konservativer Orthodoxien eingesetzt. Die Aufhebung der Wahlrechtsgesetze (2013) und der Umweltgesetze (2022) waren nur einige der umstrittenen Urteile in diesem langfristigen konservativen Wandel des Gerichts.

Das entscheidende Ereignis, das die Übernahme des Obersten Gerichtshofs der USA durch rechte Ideologen ermöglichte, war jedoch politischer Natur. Nach dem Tod des erz-“originalistischen” Richters Antonin Scalia im Februar 2016 versprach der republikanische Führer im US-Senat, Mitch McConnell, jede Nachbesetzung durch die demokratische Regierung zu blockieren, „bis wir einen neuen Präsidenten haben“ - und koppelte damit das Ernennungsverfahren an die neun Monate später stattfindende Präsidentschaftswahl.

Diese beispiellose und populistische Entscheidung der Republikaner im US-Kongress vermischte Verfassungsrecht und Politik. Sie sorgte dafür, dass Donald Trump bei Evangelikalen und Konservativen mit dem Versprechen werben konnte, Richter zu ernennen, die das historische Roe-versus-Wade-Urteil von 1973, das amerikanischen Frauen das Recht auf freie Wahl zusprach, aufheben würden. Er tat dies, indem er eine Liste mit „Pro-Life“-Richtern veröffentlichte, die er für freie Stellen am Obersten Gerichtshof in Betracht ziehen würde; und gewann damit seine erste Präsidentschaft, weil 80 % der evangelikalen Christen für ihn stimmten.

Danach hat Donald Trump die Politisierung des Obersten Gerichtshofs gezielt weiter betrieben. Als Präsident ernannte er zunächst zwei sozial konservative, männliche Richter. Und als die liberale Ikone des Gerichts, Ruth Bader Ginsburg, starb, brachte er die Ernennung von Amy Coney Barrett nur fünf Wochen vor der Präsidentschaftswahl von 2020 durch den republikanisch kontrollierten Kongress durch. Von „Mitsprache des amerikanischen Volkes bei der Auswahl (der Richterin, R.P.)“, wie die Republikaner vier Jahre zuvor argumentiert hatten, war diesmal keine Rede mehr.

Die versprochene Aufhebung von Roe v. Wade erfolgte am 24. Juni 2022, als der Oberste Gerichtshof mit dem Dobbs-Urteil entschied, dass die Verfassung kein Recht auf Abtreibung gewährt, und damit die Befugnis, Gesetze zur Abtreibung zu erlassen, an die Bundesstaaten zurückgab. Das Versprechen der Demokratischen Partei, das Recht der Frauen auf Abtreibung wiederherzustellen, trug danach dazu bei, dass die Demokraten bei den Zwischenwahlen im selben Jahr mehr Stimmen erhielten als erwartet. Aber es hat den Demokraten nicht geholfen, eine zweite Präsidentschaft von Donald Trump im November 2024 zu verhindern.

Heute sind die Ergebnisse einer langfristigen Politisierung der Justiz, die zu einem mit Ideologen und Jasagern gespickten Obersten Gerichtshof geführt hat, deutlich sichtbar. Mit seiner konservativen 6:3-Mehrheit hat das Verfassungsgericht den Frauen das Recht auf ihren Körper genommen, aber dem vermutlichen Straftäter im Weißen Haus fast völlige Immunität gewährt; es schränkt jetzt die Rechte von Migranten und ihren Familien ein, gibt aber dem „verrückten König“ als Präsident neue Befugnisse. Es setzt die Rechte des Volkes außer Kraft und duldet die Umgehung des Kongresses durch die Exekutive.

Damit der Oberste Gerichtshof der USA seine Aufgabe erfüllen kann, die Bürger vor Übergriffen der Regierung zu schützen, sind zwei Dinge erforderlich: eine Exekutive, die an ein faires Verfahren zur Ernennung von Richtern gebunden ist, und ein Senat, der sich zu deren Bestätigung verpflichtet. Beide Voraussetzungen für eine funktionierende Gewaltenteilung sind in den letzten zehn Jahren aufgegeben worden. Infolgedessen verlieren die amerikanischen Bürger Umfragen zufolge das Vertrauen in die einst hochgeschätzte Institution des Landes.

In der Vergangenheit suchten die Richter des Obersten Gerichtshofs selbst bei der Abfassung kontroverser Stellungnahmen noch nach einem Grundkonsens. Diese Praxis ist mit den Trump-Jahren verschwunden. Und kürzlich hat die Politisierung sogar das Innenleben des Gerichts erreicht. Nachdem der Oberste Gerichtshof Trump unlängst weiten Spielraum bei der Umsetzung seiner umstrittenen Verfügungen zu Geburts- und Einwanderungsrechten einräumte, hat selbst die drei Frauen starke liberale Minderheit am Gericht begonnen, sich in ihrer juristischen Reaktion zu spalten. Und unter dem Druck wüster Angriffe in den sozialen Medien sind die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Richterinnen persönlich geworden.

Die 54-jährige Richterin Ketanji Brown Jackson, die erste schwarze Frau und jüngstes Mitglied des Obersten Gerichts, verfasste eine vernichtende Stellungnahme, in der sie Donald Trumps umstrittene Verordnung zum Geburtsrecht als „existenzielle Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit“ bezeichnete. Selbst ihre beiden liberalen Kolleginnen gingen in ihrem Dissens mit der 6:3-Mehrheitsentscheidung zum “birthright” nicht ganz so weit mit ihrer Kritik am Präsidenten, der plötzlich das Recht aller in den USA Geborenen auf Staatsbürgerschaft in Frage stellt.

Ihre konservative Kollegin Amy Coney Barrett wiederum warf Jackson vor, „konventionelles juristisches Terrain“ zu verlassen, wenn sie schreibe, dass die Durchführungsverordnungen des Präsidenten „eine Zone der Gesetzlosigkeit“ schaffen. Und in der Tat, Jacksons jüngste Stellungnahmen machen ihre Einschätzung deutlich, dass der juristische Widerspruch politischer werden muss, wenn die Demokratie in Gefahr ist.

Beide Richterinnen stehen unter enormem Druck, der in den sozialen Medien aufgebaut wurde. Die New York Times berichtet über die Hintergründe der Kontroverse: „Richterin Barrett wurde von der Rechten wegen geringfügiger Abweichungen von Herrn Trumps juristischer Agenda heftig kritisiert; einige seiner Verbündeten nannten sie eine DEI-Ernennung und behaupteten damit, sie sei nur wegen ihres Geschlechts ausgewählt worden.“ Dieselben Kritiker feiern nun Barretts pointierte Kritik an ihrer liberalen Kollegin als positives Ergebnis ihrer früheren Angriffen auf die konservative Richterin, die jetzt endlich die Erwartungen des Präsidenten erfüllt.

Was als langfristige Polarisierung des Justizsystems begann und sich - ausgelöst durch die Abtreibungsfrage - zu einer dramatischen Politisierung des Obersten Gerichtshofs der USA beschleunigt hat, führt nun zu persönlichen Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern des Obersten Gerichtshofs über die grundlegende Frage, was zu tun ist, wenn die Exekutive Anordnungen der Gerichte missachtet. Und diese für jede Demokratie fundamentale Frage wird jetzt in den sozialen Medien behandelt wie ein juristisches Spektakel, in dem die Ernennungen und Meinungen von Verfassungsrichtern Teil des andauernden Kulturkampfes geworden sind. Deutschland hab Acht! 

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Schön und gemein - Donald Trumps Big Beautiful Bill im US-Kongress