“Race”, Grausamkeit und das Ende der Scham

Ehe ich am 12. April zu meiner Reise durch das amerikanische Hinterland aufbrach, saß ich mit Ron und Nick in ihrem Wohnzimmer in Washington, D.C. zusammen, um über Rassismus und Grausamkeit zu sprechen. Ron ist Professor für Psychologie und Theologie. Nick, ist Brite und blickt auf eine lange Karriere in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit zurück. Er hat viel von der Welt gesehen. Wir sprachen über den Zusammenhang zwischen Christentum und amerikanischer Psyche und über die unterschiedlichen amerikanischen und europäischen Erfahrungen in Bezug auf eine Reihe kultureller Themen. Unsere Unterhaltung berührte viele Themen, zu denen sich später auch die Menschen äußerten, die ich auf meiner Reise traf; Themen deren Bedeutung mir erst klar wurde, als ich spät abends im Hotelzimmer durch die Fernsehkanäle zappte. Vielleicht lohnt es sich deswegen, die eher akademischen Analysen meiner Washingtoner Freunde über Trumps Amerika mit den persönlichen Begegnungen auf meinem fünfwöchigen Roadtrip über 4.500 Kilometer zu vergleichen. 

Am Anfang der amerikanischen Erfahrung standen Grausamkeit und Rassismus. „In Europa“, sagt Nick, „konnten wir beides durch unseren Umgang mit dem Kolonialismus exportieren – wir wussten, was geschah, mussten es aber nicht sehen. Aber hier in den USA mussten sie damit leben. Uns Europäern hat es ein Erbe von Frömmelei und Heuchelei hinterlassen, den Amerikanern eine erstaunliche Toleranz, vielleicht sogar Begeisterung für Grausamkeit.“ In der frontier society war Grausamkeit weit verbreitet, sie war der Treibstoff einer expandierenden Nation. Und Rassismus war Amerikas „Nationale Sünde“, wie Abraham Lincoln es ausdrückte, er war „tief verwurzelt Psyche und Tradition unserer Nation“, um Martin Luther King zu zitieren. Und heute, sagt Nick, „ist „race“ das Bindemittel zwischen allen Faktoren, die Donald Trump an die Macht gebracht haben“. 

Als schwarzer Psychologe kann Ron die zentralen politischen Botschaften aufzählen, welche die konservative Neuausrichtung über mehr als ein halbes Jahrhundert geprägt haben. Richard Nixons Law-and-Order-Kampagne von 1968 war ein Gegenmittel zu den Antikriegsprotesten und Unruhen nach der Ermordung von Dr. Martin Luther King Jr. Angespornt durch die politische Rhetorik der Republikanischen Partei betrachteten Konservative Lyndon B. Johnsons „Great Society“ zunehmend als Versorgungsleistung für die Schwarzen.  

Doch das gezielte messaging begann mit Ronald Reagan, der seinen Wahlkampf 1982 in Philadelphia, Mississippi, begann, wo nur 18 Jahre zuvor drei Bürgerrechtler ermordet worden waren. Später bediente er sich des Rassenthemas, indem er von schwarzen „Wohlfahrtsköniginnen“ sprach. Präsident Bush folgte 1988 mit seinem berüchtigten und den Wahlkampf entscheidenden „Willy Horton-Werbespot“, der mit der Angst der Weißen vor schwarzer Kriminalität spielte. 1992 kopierte der demokratische Kandidat Bill Clinton diese erfolgreiche Wahlkampfstrategie mit seinem „Sister Souljah“-Kommentar und positionierte sich als Mann der Mitte, indem er sich von den umstrittenen Äußerungen einer schwarzen Rapperin distanzierte. 

Für Ron zeigte dieses „Schüren rassistischer Vorurteile“ lediglich, wie fragil die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung in Wirklichkeit waren. Diese hätten „nur das schlechte Gewissen weißer Amerikaner beruhigt und als Mechanismus der Verleugnung fungiert“. Damit wurde nur die Illusion aufrechterhalten, die Gleichheit aller sei mit der Bürgerrechtsgesetzgebung schon erreicht. Der Widerstand gegen Bürgerrechtsgesetze wuchs mit dem Aufkommen der Tea Party im Jahr 2008. Die Suche nach Sündenböcken nahm zu, „um die grotesken Ungleichheiten nach der Finanzkrise“ zu vertuschen. Mit seiner „Erlaubnis, wieder brutal zu sein“, sieht Ron Donald Trump „nicht als Ausnahmeerscheinung, sondern als Symbol für die fortschreitende „Desensibilisierung unserer Kultur“.

Und als Pfarrer einer liberalen Kirche hat Ron den parallelen Rechtsruck weißer Kirchen beobachtet, vom Fundamentalismus Jerry Fallwell‘s in den 80er Jahren bis hin zu den 89 % der Evangelikalen, die heute für Trump stimmen. Sein Urteil über diese Wähler ist hart und eindeutig: „Sie sind in erster Linie Fanatiker und erst in zweiter Linie Christen. Für sie ist die weiße Vorherrschaft wichtiger als der christliche Glaube.“ In diesen Erweckungs-Kirchen erkennt der ausgebildete Psychologe „moralische Verletzungen“, „ein verkrüppeltes Gewissen“, „einen Mangel an Empathie“ und „Erniedrigung durch ihr Bekenntnis zu Verleugnung, Verschleierung und der Suche nach einem Sündenbock“. In dieser rechtsgerichteten Version des Christentums, so fügt Ron hinzu, „ist der gesellschaftlich Andere zum Sünder geworden, der seine Strafe verdient“. 

Für beide Freunde sind die politischen Auswirkungen des beschleunigten politisch-religiösen Rechtsrucks deutlich sichtbar, und sie empfinden den daraus resultierenden gesellschaftlichen Schaden als zutiefst beunruhigend. In der Welt der alternativen US-Medien erscheine Europa als ein „moralisch verkommenes Durcheinander.“ Nick erklärt, der alte Kontinent sei eine Bedrohung für Amerika, „weil er die klare, gottgegebene Zweiteilung von Gut und Böse, männlich und weiblich, schwarz und weiß untergräbt“. Russland ausgenommen, denn nur dieses Land hat es richtig gemacht – es hat sich zu einem weißen, christlichen Imperium entwickelt, das die Schwarzen aus dem Land und seiner Kirche ferngehalten hat. Während Sozialleistungen für die Bürger des „woke Europe“ immer noch als Errungenschaft ihrer Nachkriegs-Wohlfahrtsstaaten verstanden werden, betrachte das heutige konservative Amerika „Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen als weiße Steuergelder, die unverdienterweise an die schwarze Bevölkerung gehen“. 

Soziale Medien haben mit ihren Mitteln Grausamkeit zum Zuschauersport gemacht, sagt Nick. „Die Menschen werden ständig mit Grausamkeit, der Instrumentalisierung von Rassismus und vom Leid anderer Menschen konfrontiert, das ihnen als Unterhaltung dargeboten wird. Es ist eine Sucht, die ständig gefüttert werden muss.“ Einwanderern Leid zuzufügen, kann über Monate eine solches Unterhaltungsangebot abgeben. „Aber wo endet das?“, fragt er. „Kann die Regierung genug Grausamkeiten anbieten, um die Kürzungen bei Medicaid zu kompensieren?“ Fünf Wochen nach unserem Gespräch deutet Donald Trumps „großer und schöner Haushaltsentwurf“ mit den geplanten Kürzungen bei Medicaid darauf hin, dass sie es kann. 

Auf meiner Reise durch Amerikas Hinterland schimmerte diese mangelnde Empathie für bestimmte Gruppen oft in Anspielungen und Witzen durch, kamen rassistische Stereotype meist indirekt zum Ausdruck. Doch wenn der Moderator der Late-Night-Show „Gutfeld“ auf Fox TV und seine Gäste „erfrischend“ über die Ereignisse des Tages diskutieren, sind Abwertung und Grausamkeit gegenüber schwachen, behinderten, migrantischen oder schwarzen Bürgern Teil eines verächtlichen Diskurses über den politischen Gegner. 

Wenn die Menschen, die ich traf, über umstrittene soziale oder demografische Dynamiken sprachen, waren es nie sie selbst, sondern immer ihre Nachbarn, die aufgrund ihrer rassistischen Vorurteile handelten. „Sie verließen die Stadt, weil sie das Gefühl hatten, die Schwarzen hätten die Macht übernommen.“ Und das immer wieder erlebte Nachplappern des Fox-TV-Jargons durch die Donald-Trump-Wähler in Gesprächen an der Bar, im Restaurant oder auf der Straße endete unweigerlich mit dem rassistisch aufgeladenen Satz, sie könnten nicht für die Demokratische Partei stimmen, „weil die unser ganzes Geld weggeben“. 

Als meine beiden Freunde im zu 96 Prozent prodemokratischen Washington ein Bild von Amerika zeichneten, in dem ein psychopathischer und narzisstischer Anführer im Weißen Haus keine Regeln kennt, seinen Anhängern Grausamkeit statt Lebensqualität bietet und ihnen erlaubt, ihrer eigenen Grausamkeit und ihrem Rassismus freien Lauf zu lassen, klang das für mich zunächst ziemlich hart. Aber nach meinen – stets freundlichen – Treffen und Gesprächen mit Donald-Trump-Wählern in Kleinstädten und im ländlichen Amerika kann ich ihre Analyse nicht wirklich widerlegen. 

Welche Herausforderungen müssen wir bewältigen, um Rassismus und weiße Vorherrschaft zu überwinden, die dem Aufstieg und der Herrschaft Donald Trumps zugrunde liegen? Ron hat aus der Perspektive eines lehrenden und praktizierenden Psychologen ausführlich darüber geschrieben. Um Fortschritte zu erzielen, so schlägt er vor, müssten die Amerikaner die „Leugnung von Rassismus/weißer Vorherrschaft“ angehen, ihre „gestörte Empathie“ wiederherstellen und lernen, „mit Scham umzugehen“.  Er gibt als Erster zu, dass dies keine leichten Aufgaben für eine Gesellschaft ist, die sich in all diesen Bereichen zurückentwickelt. Die Leugnung weißer Vorherrschaft ist nach wie vor weit verbreitet; Vizepräsident JD Vance hat sich kürzlich von traditionellen Konzepten wie Mitgefühl und Empathie distanziert; und Donald Trump hat hinreichend gezeigt, dass er weder Anstand noch Scham kennt. 

Bei einer Kongressanhörung im Jahr 1954, so erinnert sich Ron an eine historische Herausforderung ungezügelter Macht, hatte der antikommunistische und rassistische Senator Joseph McCarthy seine Befugnisse eindeutig überschritten, als er einen Unschuldigen belastete. Doch als ihn der mutige Oberbefehlshaber der US-Armee daraufhin vor dem Ausschuss stellte und fragte: „Haben Sie denn überhaupt keinen Anstand mehr?“, da beendete diese live im nationalen Fernsehen übertragene Frage die politische Karriere des mächtigen Senators. Donald Trump hingegen, so Ron, „hat seine gesamte Karriere auf dem Tod der Scham aufgebaut.“

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