Zwei Meinungen zu Charleroi

Wer aus Pittsburgh kommend nach 50 Kilometer Richtung Süden in die alte Fabrikstadt Charleroi einfährt, glaubt zunächst, der Ort sei völlig verlassen. Die meisten Geschäfte in der Main Street sind vernagelt. Kaum jemand ist auf den Straßen zu sehen. Die Ampeln entlang der 12 Häuserblocks schaukeln nutzlos im Wind, denn es herrscht kaum Verkehr. Am Tag vor meiner Ankunft berichtete die Lokalzeitung vom „Schlusspfiff für das Corelle-Werk“ – der Schließung einer der letzten Fabriken in der einst stolzen Stadt, “nach 132 Jahren der Glasherstellung”. Wieder ein paar hundert Arbeitsplätze verloren. Und wieder geht ein kleines Kapitel in der 50-jährigen Geschichte vom Niedergang des amerikanischen Rust Belt zu Ende. Doch in den jüngsten Nachrichten über die Stadt drehte sich alles um die Invasion der Haitianer. 

Es war natürlich Donald Trump, der das Thema im vergangenen September während seines Wahlkampfs zur Sprache brachte. Über Charleroi sagte er bei einer Kundgebung in Arizona: „Was für ein schöner Name, aber jetzt ist es nicht mehr so ​​schön. Unter Kamala Harris ist die Zahl haitianischer Migranten um 2.000 Prozent gestiegen … Diese Flut illegaler Einwanderer führt zu massiver Kriminalität in der Stadt und in allen umliegenden Orten.“ Für Trump war dies nur die Fortsetzung seiner erfundenen Geschichte, von den Haitianer in Springfield, Ohio, die Katzen und Hunde verzehrten. Für Charleroi war dies nur ein weiterer Tiefschlag. 

Der Hintergrund für Trumps zündelnde Behauptung ist die Tatsache, dass in den letzten Jahren etwa 2.000 Haitianer auf der Suche nach schlecht bezahlten Jobs und billigem Wohnraum nach Charleroi gekommen sind. Auf der Main Street kann man sehen, wie einige der leerstehenden Gebäude von Einwanderern wiederbelebt wurden, in denen nun Lebensmittel und andere Waren verkauft werden. Zwischen einem verblichenen Nagelstudio und dem Chang Fat Mini Market befindet sich der Queen’s Market, und direkt gegenüber der Charleroi-Feuerwehr gibt es den Laden ria money transfer. Kurz gesagt: Die Einwanderer haben die seit 1960 auf die Hälfte geschrumpfte Bevölkerungszahl von unlängst 4.100 Bewohnern wieder ein wenig in die Höhe getrieben. Nicht alle Charleroi-Bürger halten dies für eine gute Sache. 

„Charleroi war die magische Stadt“, erinnert sich Chris, der gerade mit seinem Pickup die örtliche Bibliothek verlässt. In seinen 35 Jahren bei der Polizei patrouillierte er in den 70er Jahren die Innenstadt. Samstagabends waren damals alle Bars, Restaurants und vier Kinos bis in die frühen Morgenstunden voller Menschen. Er erinnert sich auch gern an die Boote, die den Monogahela River hinauffuhren und am anderen Ende der Stadt anlegten, um die Kohle zu entladen, mit der früher die Stahlwerke in der Umgebung betrieben wurden. 

In den letzten Jahren vor seinem Ruhestand hat Chris miterlebt, wie mit seiner Generation auch die „harte militärische Disziplin“ bei der Polizei verschwand. Stattdessen hielt in seinen Worten „Generation Z – oder wie die heissen” - Einzug,  “die nur noch an Geld und einem guten Leben interessiert ist“. Die Zeiten haben sich geändert. Jetzt, mit seinen 71 Jahren, beobachtet Chris solche Veränderungen mit Sorge – und nicht etwa, weil er nur rechtsgerichtete Medien konsumieren würde. Stolz zeigt er mir seine verschiedenen Nachrichtenquellen auf dem Mobiltelefon, von den Nationalen Kabelsendern bis zum lokalen Mon Valley Independent

Dennoch blieben ihm bestimmte Geschichten im Gedächtnis, wie zum Beispiel die, dass „den Weißen der Zutritt zu einem ausländischen Lebensmittelladen verweigert wurde“. Wie der Reporter des „New Yorker“ diese Geschichte bereits im vergangenen September widerlegt hatte, handelte es sich hier um ein Missverständnis oder eine bewusste Übertreibung. Es gab nie ein solches Schild, das den Zutritt verwehrte, aber weiße Bürger hatten sich über die Werbetafel vor Queen’s Market beschwert, weil dort nur Lebensmittel aus Afrika, Asien und der Karibik angeboten wurden, aber eben keine aus Amerika. Laut dem „New Yorker“ machte die Besitzerin ihren Fehler rasch wieder gut, indem sie hinter der Theke ein Wahlplakat für Donald Trump aufhing. 

Und dann erzählt Chris noch die Geschichte, der Besitzer des Fourth Street Barbeque habe illegal Haitianer angeheuert und sie zwischen seinen Restaurants hin- und hergefahren. Und er verknüpft dieses Gerücht mit seinem Verdacht, die neue und sehr teure Ampelanlage an der Hauptstraße sei möglicherweise „von Bezirksbeamten und Lokalpolitikern finanziert worden, indem sie einen Anteil für den Einlass der Haitianer einstrichen“. Das ist eine ziemlich verwegene Verschwörungstheorie, aber sie kursiert offensichtlich in der Stadt. „Ich habe nichts dagegen, dass sie hier sind“, sagt Chris über die Haitianer, bevor er in seinen Pickup steigt und zu seinem Haus in den Hügeln außerhalb der Stadt fährt, „aber wir sind hier keine Zufluchtsstätte.“ Die 62,2 % der Bewohner von Washington, die am 5. November Donald Trump gewählt haben, würden seiner Ansicht wahrscheinlich zustimmen. 

Weiter geht es zu Adriana im besagten ria-Geldtransfergeschäft. Sie ist Mexikanerin, ihr Vater kam 1985 in die USA und arbeitete zunächst auf den Gemüsefeldern in Florida, ehe er nach Pittsburgh zog und dort 2007 ein Restaurant eröffnete. Adriana und ihr Mann haben sechs Kinder, einige von ihnen haben bereits ihren Schulabschluss gemacht, der Jüngste hängt mit seinem Handy neben seiner Mutter hinter der Theke ab. 

Ihre Familie sei hierhergekommen, erklärt Adriana, „weil Charleroi günstiger ist als Pittsburgh und es hier weniger Kriminalität und Drogen gibt“. Für Adriana sind die Geschichten über die haitianische Kriminalität in Charleroi allesamt gelogen und werden von Leuten verbreitet, „die uns einfach nicht mögen. Ich weiß, wie Haitianer leben; ich bin mit einem verheiratet“. In ihrem Geschäft sieht sie, wie hart Einwanderer arbeiten, um ständig Geld nach Hause zu schicken und sie muss ihre Visa oder Aufenthaltsgenehmigungen kontrollieren, bevor sie Geld überweisen dürfen. 

Sie spricht von Menschen wie Exilien, der erst kürzlich aus Haiti angekommen Während er auf den Vollzug seiner Überweisung wartet, zeigt er mir stolz seinen gerade abgegebenen Visumsantrag, da seine Arbeitserlaubnis Ende des Monats ausläuft. Der schmächtige 30-Jährige freut sich über seine Arbeit in einem Grillrestaurant, spricht aber kaum Englisch. Er wirkt verzweifelt hoffnungsvoll, dass sein Antrag rechtzeitig bearbeitet wird. Doch es bleibt unklar, ob Exilien sich der Gefahr durch Donald Trumps jüngstes Dekret bewusst ist, die bereits zu einer ersten Razzia gegen Haitianer in Charleroi geführt hat. Es ist auch unklar, wie viele Haitianer die immer rücksichtslosere Einwanderungs- und Zollbehörde bereits abgeführt hat, eine Art der Aktion, wie sie Chris befürwortet Chris und Adrianna befürchtet. 

In der Main Street, die korrekt Fallowfield Avenue heißt, treffe ich auch Linda, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte, da sie im Bildungswesen arbeitet. Auf die Frage, ob sie Donald Trump und seine Einwanderungspolitik unterstütze, platzt es aus ihr heraus: „Ja, Trump ist ein Idiot, aber ich habe ihn gewählt.“ Und warum? „Weil wir nicht weiterhin so viel Geld verschenken und Schecks ausstellen können.“ Doch welches Geld meint sie, das Geld für die Verteidigung Europas oder für die Altersversorgung Medicare? Konkreter will sie hier nicht werden. „Aber so konnte es einfach nicht weitergehen.“ Denken ihre Nachbarn denn genauso? Sie und ihr Mann reden mit ihren Nachbarn einfach nicht mehr über Politik. „Es ist alles ein einziges Chaos.“ 

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